Vor 30 Jahren: „How many tears, how many days, how many roads“ – „Colour Temple“, das Debütalbum von Vanden Plas erscheint

1994 legt die Band aus Kaiserslautern den Grundstein ihrer Karriere.

Veröffentlicht am 18. März 2024 Historisches Schlaglicht
Vanden Plas, 22. April 1994, links nach rechts: Andreas Lill, Torsten Reichert, Andy Kuntz, Stephan Lill, Günter Werno (Foto: Rainer Dietrich)

Progressive Metal aus „Betze County“*

Vanden Plas sind zweifelsohne eine der wichtigsten Bands aus Kaiserslautern. 1994 legte die Veröffentlichung ihres ersten Studioalbums „Colour Temple“ den Grundstein einer Karriere, deren aktuellstes Kapitel kurz bevorsteht. In den ausgehenden 1980ern und 1990ern entwickelte sich in und um Kaiserslautern quasi eine Mini-Szene in der stilistischen Schnittmenge zwischen melodisch-traditionellem bis progressiven Hardrock und Heavy Metal. Zu ihr gehörten neben Vanden Plas noch Superior, die mit ersteren später auf Frankreich-Tour gehen sollten und (zumindest auf den ersten beiden Alben) Winterland. Doch von diesen drei Acts spielen nur noch Vanden Plas heute jene orchestrale und „mystische Musik“*, die im Musikjournalismus gemeinhin als Progressive Metal etikettiert wird. Jedenfalls war der Verfasser – der „Colour Temple“ als Teenager und Fan harter Klänge entdeckte – seinerzeit überrascht und begeistert über eine Band ‚vor seiner Haustür‘, die es vom Tiefgang und der Musikalität mit Dream Theater, Fates Warning und Queensrÿche aufnehmen konnte.

Die Anfänge der Gruppe führen allerdings schon in die Jahre 1984 bis 1986 zurück: Gründungsmitglieder waren Andreas Lill (Drums), sein Bruder Stefan Lill (Gitarre) und Andy Kuntz (Gesang). Nach einigen Besetzungswechseln bis 1990 komplettierten schließlich Torsten Reichert (Bass) und Günter Werno (Keyboards) das definitive Lineup. Den ursprünglichen Namen „Exodus“ gab man wegen der Namensgleichheit mit der kalifornischen Thrash-Band schnell zugunsten von „Vanden Plas“ (eine alte britische Automarke) auf. Die Stücke des 1991er-Demos „Days of Thunder“ und seiner Maxiversion „Fire“ unterscheiden sich noch deutlich von dem wenig später neu eingeschlagenen Stil. Die tolle hymnische Hardrocknummer „Days of Thunder“ hätte sich auch gut auf dem Soundtrack des gleichnamigen Tom Cruise-Films gemacht, während „Ridin‘ with the Wind“ als fetziger Rock’n’Roller mit leichten Cinderella- und AC/DC-Anklängen daherkommt. Für die Zukunft beschloss man allerdings, unter Beibehaltung des melodiös-gefühlvollen Elements, musikalisch in eine härtere, komplexere und eben nicht radiofreundliche Richtung zu gehen. Parallel sammelten die Musiker schon 1992 Theater- und Musicalerfahrung – bei der Aufführung von „Jesus Christ Superstar“ im Staatstheater Saarbrücken sowie im Pfalztheater Kaiserslautern bei „Der Kleine Horrorladen“ und der „Rocky Horror Show“, auch mit entsprechenden Rollen für Andy Kuntz. Gerade die Beziehung zum Pfalztheater sollte in den kommenden Jahrzehnten eine zunehmend essentielle werden und der Band ein zweites künstlerisches wie wirtschaftliches Standbein verschaffen.

Vanden Plas live, CD-Release-Party Kammgarn, 23. April 1994 (Foto: Rainer Dietrich)

Die Initialzündung: Das Farbenspiel der Seele

Musikalisch nochmals eine andere Liga als das Vorgängermaterial, markiert das erste Studioalbum mit Blick auf die spätere Diskographie von Vanden Plas jedoch seinerseits nur den Anfang einer konsequenten Weiterentwicklung. Andy Kuntz sagte in einem späteren Interview, zwar vergleiche er Alben nicht gerne miteinander, aber der musikalische Sprung zwischen dem Debüt und seinem 1997er-Nachfolger „The God Thing“ sei „immens“*. Doch um Missverständnissen vorzubeugen: Trotz des gelegentlichen Durchschimmerns geschmackvoller 80er-Hardrockeinflüsse ist „Colour Temple“ eine hundertprozentige Progscheibe der A-Liga, in der bereits sämtliche Trademarks der Band angelegt sind: die harten Riffs und virtuosen Leads, die großen Gesangslinien, die Breaks, das Spiel mit der Dynamik und eine düster-erhabene Atmosphäre. Das von den fünf Musikern produzierte und am 18. Januar 1994 veröffentlichte Werk war in Schöneck im ROKO Soundstudio von Robert Kohlmeyer entstanden, der auch als Ko-Produzent fungierte. Da die Band die volle kreative Kontrolle behalten wollte, veröffentlichte sie das Album zunächst in Eigenregie, in der berechtigten Hoffnung, mit dem Endresultat eine Plattenfirma zu überzeugen. 1995 erschien die CD dann bei Dream Circle Records, 2002 in einer erweiterten Special-Edition bei InsideOutMusic.

Mit Blick auf den Albumtitel und die Inhalte der Stücke bleibt Texter und Ko-Komponist Kuntz, von einigen Ausnahmen abgesehen, meist metaphorisch und ambivalent, der Hörer soll sich seine eigenen Gedanken machen. Die titelgebenden „colours“ stehen für die hellen wie dunklen Aspekte oder Schwingungen des Menschseins, das seinerseits in unterschiedliche Beziehungen zum Glauben tritt, für den symbolisch der „temple“ steht. Im Grunde geht es um Herz und Seele des Menschen. Das Album beginnt wuchtig, aber auch unheilschwanger mit dem Intro aus Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“, um dann direkt in das pulsierende Gitarrenriff des treibenden Openers „Father“ zu münden. Lyrisch geht es zumindest um einen Agnostiker, der einen unsichtbaren Gott anfleht, seinem Leben einen Sinn zu geben. Das nicht minder energetische „Push“ setzt sich mit Rassismus und den aus ihm entstehenden doppelten Maßstäben auseinander, während das getragenere „When the Wind blows“ der Angst vor einer zerbrechenden Freundschaft Ausdruck verleiht. „My Crying“ wiederum ist ein Verzweiflungsschrei über eine Welt, in der sich die Moral immer mehr im Sinkflug befindet. Angesichts des Zeitgeschehens mutet der machtlose, aber auch trotzige Chorus aktueller denn je an: „This is my crying for these good old bad days! Kings and queens and presidents, this is my world!“ „Soul Survives“ wiederum ist die große Oper der CD, eine neunminütige Achterbahnfahrt, während derer über die Möglichkeiten von Seelenwanderung in einer entvölkerten Welt nachgedacht wird. Dem folgt „Anytime“, die einzige Ballade: Musikalisch wunderschön, aber angesichts des wahren Hintergrunds herzzerreißend, wird in ihr eines sechsjährigen Mädchens gedacht, das vergewaltigt und ermordet wurde und des Schmerzes, den seine Familie, hier vertreten durch ihren Vater, durchleiden muss. Um das Böse, den inneren Verräter im Menschen geht es dann in dem Doublebass-Kracher „Judas“, vielleicht die härteste Nummer, die auch 30 Jahre später nichts von ihrer Durchschlagskraft verloren hat. Das mit einem mitreißenden Chorus versehene „Back to me“ besitzt vordergründig einen konkreten Bezug zum Golfkrieg, ist aber letztlich den Soldaten aller Kriege und ihren um ihre Rückkehr bangenden Angehörigen gewidmet. Beschlossen wird das Album von einem der größten Vanden Plas-Songs, der sich live schnell zu einem absoluten Fan-Favoriten mauserte: „How many Tears“. Eine akustisch beginnende achtminütige Halbballade, mit einem eingängigen Chorus und großem Finale, in der es einerseits darum geht, wie gründlich man im Leben seinen Weg verlieren kann, die aber andererseits auch Hoffnung macht, diesen im Sinne einer Erlösung wiederzufinden.

Den musikalisch und lyrisch vielschichtigen Inhalt des Albums verkörpert auch dessen mysteriöses Artwork,* das die Skulptur „Der Mann, der aus der Wand kommt“ des veronesischen Künstlers Cesare Marcotto zeigt. Diese fiel Andy Kuntz seinerzeit im Büro des Pfalztheater-Intendanten Pavel Fieber prompt ins Auge. Die Figur eines verfremdeten Tänzers erinnerte ihn gleichzeitig an den gekreuzigten, leidenden Christus und somit an das Leiden als ein durchgängiges Motiv seiner Songtexte. Auf dem Cover des 94er-Self-Release war die Figur zunächst noch violet vor schwarzem Hintergrund gehalten, bevor sie sich auf den späteren CD-Versionen in Gold vor Rotbraun präsentierte.

„Brother, can you see that the time’s moving on…“

Am 23. April 1994 luden Vanden Plas zur Release-Party von „Colour Temple“ in die Kammgarn ein, um dort ihren Erstling live zu präsentieren. Die Kritiken für das Album konnten sich sehen lassen. So schrieb das Szenemagazin Rock Hard wie üblich etwas derber:

Die Kraftfutter-Fraktion unter den Melody-Heavies vermeldet starken Nachwuchs. VANDEN PLAS verkörpern gediegenen orchestralen Metal und mit ihren neun Songs eine Mischung, die einen in Europa und - natürlich -Japan höchst konkurrenzfähigen Act ausmacht: Gutes Melody-Writing, kompakt ausbalancierte Produktion, versierte Instrumentierung von den Äxten bis zu den Drums, vielseitige Arrangements. … Manche Nummern aus Betze County dürften genau nach dem Geschmack all jener sein, die sich … eine wesentlich rauher und traditioneller verputzte Dokken-Reunionscheibe gewünscht haben…*

In Frankreich schlug das Album ein wie eine Bombe, gleich zwei Touren 1995 und 1996 waren äußerst erfolgreich (u.a. ein Gig im Pariser Rockclub „La Locomotive“). Auch in Japan gab es zügig einen Release. Währenddessen brauchte man daheim in der Pfalz und Restdeutschland mitunter leider etwas länger, um die Qualität und den wachsenden Erfolg der Truppe zu würdigen. Die Band ging konsequent weiter ihren Weg und tourte 1997 als Vorgruppe mit Dream Theater.

„The rest is history“, wie man sagt. Heute sind Vanden Plas nach zehn Studioalben (in Auswahl: „Far off Grace“ 1999, „Christ 0“ 2006, „The Seraphic Clockwork“ 2010, Chronicles of the Immortals: Netherworld I + II" 2014/17, The Ghost Xperiment: Awakening/Illumination" 2019/20), Rockopern („Last Paradise Lost“ 2021), Theaterrollen und weitere Engagements noch nicht eingerechnet, die führende Progressive Metal-Band Deutschlands und eine der besten weltweit (Gigs auf dem ProgPower Festival in Atlanta 2011 und 2016). Dass ihr Lineup Ende 2023 mit dem Ausstieg von Günter Werno den ersten Wechsel seit über 30 Jahren verkraften muss, ist einerseits bedauerlich, öffnet aber andererseits ein neues Kapitel der Bandgeschichte. Mit Alessandro Del Vecchio wurde jüngst ein neuer Keyboarder verpflichtet, die neue Single „My Icarian Flight“ ist bereits erschienen und für den 19. April 2024 das elfte Vanden Plas-Album „The Empyrean Equation of the Long Lost Things“ angekündigt. Man darf also auf die kommenden Jahre gespannt sein. Die Show muss schließlich weitergehen.

Christian Decker

 


Literatur und Quellen:

  • Glas, Stefan: Vanden Plas-Interview. Jesus & Rocky Horror, in: Underground Empire 7 (1994) [zuletzt abgerufen am 13.03.2024].
  • Glas, Stefan: Vanden Plas. Rock Horizons, in: Underground Empire 1 (1989) [zuletzt abgerufen am 13.03.2024].
  • Fröhlich, Larissa: „Ich bin nicht unfähig zum Hass“. Interview mit Andy Kuntz von Vanden Plas über die neue CD „Colour Temple“; Dieselbe: „Colour Temple“. Die neue CD von Vanden Plas. Ein Meilenstein, jeweils in: T 5. Das Journal Westpfalz, April 1994, keine Seitenang. (Stadtarchiv Kaiserslautern).
  • Roschy, Birgit: Die neue CD weicht vom Stil ab. „Heavy – aber nicht Metal“ – Neben der Studioarbeit spielt „Vanden Plas“ zur Zeit im „Kleinen Horrorladen“ am Pfalztheater und am Saarbrücker Theater, in: Die Rheinpfalz, 12.03.1994 (Stadtarchiv Kaiserslautern).
  • Roschy, Birgit: Songs mit Ecken und Kanten. Konzertpause beendet: „Vanden Plas“ stellt in der Kammgarn CD „Colour Temple“ vor, in: Die Rheinpfalz, 26.04.1994 (Stadtarchiv Kaiserslautern).
  • Vanden Plas (Band) [zuletzt abgerufen am 13.03.2024].
  • Vanden Plas: Colour Temple, CD-Booklet Special Edition (Linernotes), InsideOutMusic 2002.
  • Vanden Plas: Colour Temple, Review, in: Rock Hard Vol. 99, 26.07.1995 [zuletzt abgerufen am 13.03.2024].
  • Vanden Plas. Internationaler Erfolg mit hartem Rock aus Kaiserslautern, in: Pavillon, Mai 1996, keine Seitenang. (Stadtarchiv Kaiserslautern).
  • Vanden Plas, Homepage [zuletzt abgerufen am 15.03.2024].
  • Discography/Colour Temple [zuletzt abgerufen am 15.03.2024].

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