„…wie vom Erdboden wegrasiert.“ Vor 100 Jahren: Die Explosionen in der BASF-Stickstofffabrik Oppau am 21. September 1921

Veröffentlicht am 20. September 2021 Historisches Schlaglicht

Aus heiterem Himmel

Die meisten Todesopfer gab es in dem sogenannten Säureviertel an der Nordwestecke des Werkes, wo nach Berichten von Augenzeugen die Toten haufenweise herumlagen. Die Bauten 110 und 111, in denen einige hundert Mann gewesen sein sollen, waren wie vom Erdboden wegrasiert. Wo sie gestanden haben, klafft jetzt ein Trichter, der einen Durchmesser von 100 Metern und eine Tiefe von 50 – 60 Metern besitzt. Unten sieht man das Grundwasser. […] Jetzt sehen wir auch das nahe Dorf Oppau. Wie mit tausend Fäusten hat der Luftdruck in das unglückliche Dorf hineingegriffen und kein, aber auch kein Haus verschont. Das Dorf mit seinen etwa 400 Häusern steht da, als hätte ein Erdbeben den Boden unter ihm emporgehoben. Aus den geborstenen Särgen der Häuser hängen die Möbelstücke, aufgerissene Bettstellen, gestürzte Schränke wie Eingeweide heraus. Von dem grauen dunstigen Himmel beginnt es zu regnen, immer stärker. […] Die meisten Häuser sind verlassen; in einigen stehen die Einwohner und weinen. Sie sprechen nicht, sie sind wie gelähmt. An einer Hauswand lehnt ein Mann mit einem verbundenen Kopf. Er sieht zur Fabrik hinüber. Ein Arzt spricht mit ihm. Er antwortet nicht.1

„Krater des Fortschritts“. Luftbild des Oppauer BASF-Werks nach den Explosionen, 1. Oktober 1921, gedruckt in „L’Illustration“ (Stadtarchiv Ludwigshafen, Fotosammlung, Nr. 23041)

Diese Auszüge aus dem Bericht der „Frankfurter Zeitung“ vom 22. September 1921 zeichnen eine apokalyptische Szenerie, die der Beschreibung eines Kriegsgebiets ähnelt. Sie präsentierte sich den Reportern als unvermeidliche Folge der wohl größten Industriekatastrophe, die Deutschland bis dato erlebt hatte: Am Vortag des 21. September war es um kurz nach halb acht morgens in der Oppauer Stickstofffabrik der BASF zu einer sekundenschnellen Doppeldetonation eines Lagersilos, gefüllt mit rund 4.000 Tonnen des Düngemittels Ammoniaksulfatsalpeter, gekommen. Aufgrund der schieren Zerstörungsdimension, der Herausforderung der Bergungsarbeiten und der Tatsache, dass das gesamte Wartungspersonal des Silos getötet worden war, ließ sich die exakte Ursache der Detonationen länger nicht bestimmen. Zudem besaß man von Werksseite bis zu diesem Zeitpunkt keine Anzeichen für die Explosivität des Stoffes. Heute benennt die BASF als Auslöser eine damals bereits „routinemäßige Lockerungssprengung“ des Düngemittels im Silo. Offenkundig hatte jedoch ein falsches Mischungsverhältnis der chemischen Komponenten Ammonsulfat und Ammonsalpeter des ausgehärteten Düngers diesen instabil werden lassen.

Die verheerende Bilanz der Katastrophe: 561 Tote und über 1.000 Verletzte waren zu betrauern, der westliche Fabrikteil im Epizentrum pulverisiert, zahlreiche Arbeiterhäuser und das komplette, unmittelbar benachbarte Dorf Oppau zerstört worden. Dort hatte die noch innerhalb eines Radius von 80 Kilometern spürbare Stoßwelle, wo sie nicht gleich die Häuserwände wie eine Eierschale zerschmetterte, zumindest Dachstühle weggerissen und sämtliche Fensterscheiben zerspringen lassen. Wenn nicht verwundet, so waren die meisten Menschen obdachlos geworden und irrten nun unter Schock durch ihre Häuserruinen auf der Suche nach verbliebenen Habseligkeiten. In Ludwigshafen regnete es laut Presseberichten Scherben, in Weisenheim warf es einen Zug von den Gleisen, der in französische Militärbaracken krachte, zwölf Soldaten starben. Da die BASF zu dieser Zeit der größte industrielle Arbeitgeber der Region war, trafen die menschlichen Verluste nicht nur das Ludwigshafener Umland und die Vorderpfalz, sondern auch die Westpfalz – worauf als eine der ersten zeitgenössischen Pressestimmen etwa der am Unglückstag erschienene „Allgemeine Anzeiger Meisenheim“ hinwies. Die seismischen Wellen der Explosionen waren bis zu 385 Kilometer weit aufgezeichnet worden, man hatte sie gefühlt und gehört in Kaiserslautern, Worms, Heidelberg, Darmstadt, ja selbst im fernen München. Den finanziellen Gesamtschaden der Katastrophe bezifferte man letztlich auf 321 Millionen Mark. 

Erste Rettungs- und Bergungsmaßnahmen

Die unmittelbare medizinische und logistische Bewältigung der Katastrophenfolgen lag, flankiert von Polizei, Rotem Kreuz und Feuerwehr, im Wesentlichen in den Händen der BASF, der lokalen Bürgermeisterämter – hier kam insbesondere den Stadtverwaltungen Ludwigshafen und Frankenthal eine strategische und informative Verteilerrolle zu – und schließlich der Militärregierung der französischen Besatzungsmacht. Während BASF-Betriebsarzt Dr. Ernst Westhoven die medizinische Erstbetreuung und Versorgung an der Unglücksstätte übernahm, koordinierten die Ämter sämtliche Maßnahmen, kanalisierten den Strom freiwilliger Helfer – der wegen seiner überwältigenden, letztlich ineffizienten Ausmaße schon bald gestoppt werden musste – ließen Werkzeug und schweres Gerät herbeischaffen, die Verletzten in die Hospitäler der näheren und weiteren Umgebung einweisen und z.B. in Ludwigshafener Schulen Notlazarette einrichten. Französische Einheiten waren kurz nach den Explosionen vor Ort, kommandiert von Oberst Mennetrier, der im Auftrag der Interalliierten Rheinlandkommission unter Präsident Paul Tirard handelte, und dem Oberdelegierten der Pfalz, General de Metz. Die Franzosen sperrten das Werksgelände ab, richteten in Oppau vier Feldküchen ein und patrouillierten zusammen mit der deutschen Polizei gegen etwaige Plünderer. Zudem erhielten die Bürgermeister von Ludwigshafen und Oppau sowie der BASF-Betriebsrat von der Abordnung tags darauf eine von Tirard autorisierte erste Finanzspritze von insgesamt 75.000 Mark. Außerdem schickten die französischen Garnisonen in Landau und Speyer ihr gesamtes medizinisches Personal.

links: Blick auf den Krater mit an dessen Rand stehenden Beobachtern ; rechts: zerstörter Werksteil Oppau (jeweils: IPGV, Fotosammlung)

Nahmen sich die immense Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Franzosen in der Notlage positiv aus, machte sich jedoch in den Folgetagen als negative Begleiterscheinung der Katastrophentourismus bemerkbar. Massen mitunter gutgekleideter bürgerlicher Schaulustiger flanierten in Sonntagsausflugmanier ungeniert durch das verheerte Oppau und behinderten die lokalen Rettungsarbeiten massiv. Weder eine empörte Presseberichterstattung noch ein offizielles Zutrittsverbot des Ortes für Auswärtige konnten des Missstands wirklich Herr werden.

Staatliches Engagement, Spenden und Konsequenzen                       

Parallel zu den praktischen Mobilisierungsmaßnahmen waren in den ersten Tagen nach der Katastrophe umfangreiche staatliche Bemühungen zur finanziellen Behebung ihrer Folgen angelaufen. Reichsarbeitsminister Heinrich von Brauns sondierte am 24. September mit allen betroffenen Parteien vor Ort die Lage, der von ihm ins Leben gerufene „Reichshilfeausschuss“ – u.a. bestehend aus Repräsentanten der Reichsregierung, der Regierungen Bayerns, Badens, Hessens und Preußens, der Industrie, der Gewerkschaften, des Deutschen Städtetages sowie des Roten Kreuzes – schickte sich an, eine nationale Spendenaktion zu organisieren. Der Bayerische Landtag hatte bereits am Unglückstag eine Soforthilfe von 10 Millionen Mark bewilligt, u.a. waren bis dato auch das Reichslandwirtschaftsministerium mit 500.000 Mark, die Reichsregierung mit 10 Millionen und Reichspräsident Friedrich Ebert mit 250.000 Mark in Vorleistung getreten. Die nun anlaufende, von der gesamten deutschen Presse beförderte Spendensammlung unter dem Motto „Gebt rasch und gebt reichlich für die Opfer des Oppauer Unglücks!“ brachte bis Anfang Mai 1922 nochmals 38,5 Millionen Mark ein. Die Verwendung und Verteilung der eingegangenen Spendengelder wurden auf regionaler Ebene wiederum von dem „Hilfswerk Oppau“, dem Ministerialrat Karl Stützel vorstand, überwacht. Dessen Hauptaufgaben bestanden in der Konzertierung der Räumungs- und Wiederaufbauarbeiten, der Gewährleistung finanzieller Überbrückungsleistungen und nicht zuletzt der Interessenvertretung der Opfer. Letztere erwies sich – bei Ereignissen solcher Art wenig überraschend – besonders in den Haftungs- und Entschädigungsverhandlungen mit der BASF als Konfliktfeld. Da relativ schnell klar wurde, dass die Summe sämtlicher Staatszuschüsse und Spenden für die Gesamtdeckung der Schäden nicht ausreichen würde, war man zunächst – namentlich der Oppauer Bürgermeister Süß – von einer selbstverständlichen Haftung des Unternehmens ausgegangen.

Eine solche Haftung, verbunden mit potentieller Fahrlässigkeit, ließ sich jedoch, auch wegen der langwierigen Ursachenforschung, juristisch nicht nachweisen – eine Position, die die BASF-Direktion unter Carl Bosch erfolgreich vertrat. Nach Verhandlungen u.a. mit dem Reichsarbeitsminister und Reichsgericht erklärte sich die Firma lediglich zu freiwilligen Entschädigungszahlungen bei gleichzeitiger Zurückweisung jeglichen Schuldeingeständnisses bereit. In Kooperation mit dem Oppauer Hilfswerk, dem man im Dezember 1921 die ersten fünf Millionen Mark überwiesen hatte, erhielten die Hinterbliebenen getöteter „Aniliner“ relativ geringe dreistellige Abfindungen bzw. Witwenrenten. Auch die Familien nichtbetriebsangehöriger Opfer (z.B. aus Drittfirmen) wurden berücksichtigt. Bis 1922 beliefen sich die Zahlungen auf ca. 3,2 Millionen Mark, jedoch zehrte die schon spürbare Hyperinflation den Wert erhaltenen Beträge rasend schnell auf. Nicht nur, aber auch deswegen empfanden zahlreiche Geschädigte und Hinterbliebene ihr Schicksal wie ihre Ansprüche in den zähen Verhandlungen letztlich nicht ausreichend gewürdigt. Die Katastrophe und der firmeneigene Umgang damit führten dazu, dass die in jenen Jahren ohnehin schwelenden Konflikte zwischen Belegschaft und Direktion an Schärfe gewannen. Waren für viele Beschäftigte doch die harten, gefährlichen Arbeitsbedingungen und das Akkordsystem mitverantwortlich für das Vorgefallene. Dass Direktor Bosch in seiner Rede auf der 70.000 Teilnehmer zählenden Ludwigshafener Trauerfeier am 25. September sinngemäß feststellte, bei aller Tragik der höheren Gewalt, seien derlei Vorfälle quasi natürlicher Teil des technischen Fortschritts, in dem trotzdem jeder seine Pflicht erfüllen müsse, dürfte nicht wenigen Arbeitern sauer aufgestoßen sein. In diesem Sinne kamen die neuerlichen Streiks 1922 nicht wirklich überraschend.

links: Häuserruinen in Oppau (IPGV, Fotosammlung) ; rechts: Familie in den Trümmern ihres Hauses (Stadtarchiv Ludwigshafen, Nachlass Hans Lutz, Nr. 42d/239)

War die zerstörte Fabrik bereits in Jahresfrist wiederaufgebaut worden, für Oppau dauerte es diesbezüglich immerhin drei Jahre, setzte die BASF als technische Konsequenz die Produktion von Ammonsalpeter für die nächsten zwanzig Jahre aus. Abgesehen von der Sonderkategorie der Kriegszerstörungen gab es im 20. Jahrhundert noch ein weiteres BASF-Unglück, das in seiner Schwere in die Nähe des Vorfalls 1921 rückte: die 200 Leben fordernde, mit schweren Gebäudeschäden verbundene Explosion eines Kesselwagens am 28. Juli 1948. Doch auch im 21. Jahrhundert bleibt die industrielle Chemieproduktion bei allem technischen Fortschritt ein riskantes Berufsfeld, wenn jeweils nachteilige Umstände eintreten. Dies zeigte sich am 17. Oktober 2016, als es im Ludwigshafener Nord-Hafen der BASF zur Explosion einer eigentlich gesicherten Propylenleitung kam, wobei drei Menschen starben und 29 teils schwer verletzt wurden. Das jüngste Ereignis, welches zeitlich fast mit dem Gedenkjahr der 1921er-Katastrophe zusammenfiel und auf fatale Art an diese erinnerte, war allerdings die Detonation vom über 7.500 Tonnen gelagertem Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut am 4. August 2020, die 207 Menschen tötete und über 6.500 verletzte. Wer vor einem Jahr in der Berichterstattung das Handyvideo der gewaltigen Stoßwelle sah, die weite Teile der libanesischen Hauptstadt in Trümmer legte, erhält eine lebhafte Ahnung dessen, was seinerzeit über Oppau hereinbrach.

Christian Decker


[1] Zitiert bei Saner: Explosionskatastrophen, S. 481/482, 485. Zumindest bei der Tiefe des Kraters hatten sich die Reporter allerdings verschätzt, diese betrug realiter 19 Meter, bei einer Länge von 125 und Breite von 90 Metern, siehe Schiffmann: Revolution, S. 236.


Literatur und Quellen:


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